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O Mensch!
Warum haben Sie als Text für den Liederzyklus Nietzsches Gedichte gewählt? Was war stärker – der Zugang über die Dichtung oder die Philosophie?
Seit sehr langer Zeit wollte ich schon etwas mit Nietzsche machen. Sozusagen „meinen Nietzsche machen“. Sieht man von seinen Jugendarbeiten ab, gibt es bei Nietzsche genaugenommen keine Poesie, vielmehr wird in seinem Werk alles zu Dichtung. Und durch die aphoristische Ausdrucksform ist es möglich, dass Dichtung Philosophie wird.
Wie wichtig ist es für Sie, neue Ideen in einen geschichtlichen Kontext zu setzen?
Ich weiß nicht, ob ich die Frage richtig verstanden habe, aber für mich steht fest, dass Nietzsches Ideen immer neu sind. Ich würde sogar sagen, immer mehr …
O Mensch! war ein Auftrag des Théâtre des Bouffes du Nord, Paris, und wurde dort als Bühnenstück uraufgeführt. Wie legitim sind für Sie Audioaufnahmen von inszenierter Musik? Fehlt diesen nicht ein wichtiger Aspekt, das visuelle Element? Oder ermöglicht das konzentrierte Hören sogar ein tieferes Empfinden?
Es ging nicht darum etwas in Szene zu setzen, sondern eine Szene zu schreiben. Genauer gesagt, nach der Musik weiterzuschreiben. Wenn ich Musik für die Bühne schreibe, kommen mir oft im gleichen Gedankengang Bilder einer anderen Szene. Ich höre eine Musik, ich schreibe sie auf und ich schaue einfach. Also, beim Denken sind in mir Bilder entstanden. Bei mir kommt alles von der Musik, aber der Wunsch nach einer Musik entsteht in mir nicht immer durch Musik. Ich sehe also Formen, das ist undeutlich, fast wie Nebel, verschwommen. Der Raum des Gesangs muss fast hörbar sein, bei halb geschlossenen Augen. Um ihn richtig zu verstehen, sollte man ein bisschen kurzsichtig werden. In diesem undeutlichen Raum wird das Hören intensiv.

Ich habe den gehenden Menschen ziemlich schnell „gesehen/verstanden“. Es brauchte einen Mann, der im Nebel herumirrt. Nietzsche ist ein Gehender. Er ist allein. Immer. Er ist immer allein geblieben, war beim Gehen allein. Aber das ist nicht ein Stück über Nietzsches Einsamkeit, sondern vor allem eine Partitur über Nietzsches Leidenschaften, die ich zu „verstehen/sehen“ geben will. Seine Stimmung ändert sich ständig, er ist froh, traurig, melancholisch, aufbrausend, er amüsiert sich, er weint, er schreit, er stöhnt, er macht sich über etwas lustig. Auch über sich selbst. Er ist niemals der gleiche.

In der Aufführung, die ich inszeniert habe, gibt es am Anfang einen sehr tiefen Ton. Der kommt von weither, fast von vor der Musik. Dieser Ton schafft eine eigene Welt. Man riecht den Wald, die Vögel, in der Ferne plätschert Wasser. Es ist Nacht. Alle Bilder und Klänge von O Mensch! kommen aus der Nacht. Die Nacht, die wirkliche Nacht und dann auch die andere Nacht, die, die man erfindet, die der Erinnerung. Wenn man sich an etwas erinnert, ist es, als käme es aus der Nacht. Eine Erinnerung, sogar eine Kindheitserinnerung, kommt immer aus der Nacht, einer Nacht. Deshalb erinnert man sich so gerne kurz vor dem Schlafen, vor dem Eintauchen in die Nacht. Es ist also wie ein Traum, ungenau, man versteht nicht immer, was das sagen will, aber es sagt alles. Wenn er alle diese Bilder bei seinen Füßen vorbeiziehen sieht, ist es genau das, was passiert. Diese Bilder habe ich bei mir gefunden, in meinen Erinnerungen und dann auch sonst überall. In O Mensch! gibt es so etwas wie einen Traum aus verschwommenen Bildern, die irgendwie vorbeiziehen, das ist alles, das genügt. Es kommt auch ein Adler vor. Es ist ein Adler, der zuschaut, vor allem aber zuhört. Bei Nietzsche (es gibt viele Tiere bei Nietzsche, eine richtige Zoohandlung) steht der Adler für den ungezähmten Stolz. Das musste man zeigen. Ich wollte auch einen Löwen haben, aber ich musste mich entscheiden.

Dann ist da noch das Licht. Ich wollte es sehr weich, duster, fast undurchdringlich, aber nicht immer. Das Licht ist nahe an jenen Klängen, die unter der Musik hervorkommen. Wie ein zusätzliches Geheimnis. Ich hörte noch andere Klänge, nicht nur Gesang und Klavier, es brauchte andere Klänge, so wie noch eine weitere Szene. Es hat lange gedauert sie zu formen, ich musste sie lange anhören, um den richtigen Klang zu finden. Und dann gibt es Klänge, die irgendwie daherkommen, das ist ganz einfach und fragil, es sind die echten Klänge der Welt, der Klang von vor den Menschen. Ganz hinten steht eine Statue. Eine sehr alte Statue, sie kommt aus einem sehr fernen Land, einem Land, in dem die Menschen sich noch in das versenken können, was sie von sich selbst wissen, damit sie es niemals zerstören. Um diese Erinnerung also über die Zeit ihres Lebens hinaus zu bewahren, stellen sie solche Statuen rund um ihre Dörfer auf und so vergessen sie niemals, was sie gelernt haben. Es sind friedliche Statuen, sie beobachten die Menschen, alle Menschen, es sind Wächter, sie machen nichts anderes als da zu sein. Nietzsche hört auch nie auf da zu sein.

Am Ende streicht eine Hand über einen Himmel mit falschen Sternen, das ist nicht die Hand Gottes – Nietzsche ist Gott genau entgegengesetzt – es ist die Hand, die einen anderen Raum flüchtig zu berühren versucht, so als schaute man in sein Inneres, denn, ja, man kann auch mit der Hand schauen …

Das war‘s, so ist O Mensch! entstanden.
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