Schrammelmusik ist wie eine Praline. Sie sieht auf den ersten Blick ziemlich gewöhnlich aus, altmodisch, glänzend, ein bisschen Zuckerguss. Wenn man sie freilich in den Mund nimmt, kann alles Mögliche passieren: Dann erweist sich der Inhalt als cremig und elegant, als picksus und ein bisschen geil, oder auch als scharf und durchaus besoffen, wenn nämlich die Flasche mit dem Obstbrand nicht schnell genug weggeräumt wurde. Man muss den berühmten Tanzen und Marschen nur einmal zugehört haben, um ihr ahnungsvolles Schleppen, das klagende und gleichzeitig ironisierende M-ta-ta sofort als Ausdruck der wienerischen Kultur zu verstehen. Gleicht es nicht dem Sound, in dem in dieser Stadt gesprochen wird (und zwar ganz egal, ob das ein originales Wienerisch ist oder ein turko-serbisches Derivat davon; am deutlichsten tritt der Sound freilich zutage, wenn ihn ein norddeutscher oder alemannischer Kieferknacker zu karikieren versucht). Nimmt der Klang der Schrammeln nicht das Motiv des gesättigten Klagens auf, der zelebrierten Unzufriedenheit, mit denen man sich in Wien so tadellos arrangiert hat? Weil nur in Wien ist es normal, gleichzeitig dick und immer hungrig zu sein, an den Verhältnissen zu leiden und sie auf keinen Fall verändern zu wollen. Auch dafür ist die Schrammelmusik der passende Soundtrack.
Am Anfang dieser Musik, die für Wien eine ähnliche Funktion hat wie der Fado für Lissabon oder die Countrymusik für Nashville, standen die Brüder Johann und Josef Schrammel. Beide waren Geiger, beide begnadete Komponisten. Sie taten, was viele große Komponisten, von Schubert bis Brahms, von Dvořak bis Bartok, genauso taten: Sie verbündeten sich mit der Volksmusik, aber auch mit der volkstümlichen Musik der Wiener Vorstadt. Sie notierten die gängigsten Figuren und Wendungen, fugten eigene Ideen hinzu, hoben das Gedudel und Hal-lo-Seufzen um eine Stufe von der Wirtshausfolklore in den Status der aufgeschriebenen Musik.
Als die Brüder Schrammel mit dem Gitarristen Anton Strohmayer und dem Klarinettisten Georg Danzer das ≫Specialitaten Quartett Gebruder Schrammel≪ gründeten, war das Setup für den Mainstream-Erfolg perfekt. Wie die Schrammler klassische Wienerlieder zur Aufführung brachten, entzückte gleichermaßen das Heurigenpublikum in Hernals und Neustift wie auch die aristokratische Gesellschaft in den Salons der Innenstadt. Die Schrammeln trafen den Nerv ihrer Zeit. Sie schlugen die Brücke vom dunkelgrauen, demokratischen Witz des Wienerlieds zur abstrakten Sentimentalität des Fin de Siecle. Es formierten sich unzählige Bands, um selbst ≫Schrammelmusik≪ zu spielen, wie das neue Genre seither genannt wird, die meisten davon in der klassischen Besetzung von zwei Geigen, Kontragitarre, Klarinette oder, immer öfter, mit einer Knopfharmonika.
Als die Neuen Wiener Concert Schrammeln im Jahr 1995 den Spielbetrieb aufnahmen, folgten sie der Tradition dieser Besetzung und stießen doch in ein Vakuum. Die Schrammelmusik hatte ihren Status als gültige Popularmusik langst eingebüßt und musste gerade einen ziemlichen Spagat turnen. Auf der einen Seite wurde sie als musikalisches Schmiermittel bei den Industrieheurigen Grinzings verwendet, verkitscht, vulgarisiert und von allen Feinheiten befreit, um den Weinkonsum und die Tourismuswirtschaft anzukurbeln. Auf der anderen Seite vollzogen etwa Karl Hodina oder der Extremschrammler Roland Neuwirth kulturelle Gratwanderungen, um die originale Schrammelmusik mit ihrer Verwandtschaft aus Amerika bekanntzumachen und neue Beziehungen zu stiften.
Es war also höchste Zeit für die avancierte Pflege des klassischen Schrammelkanons, zumal sich die Koordinaten so radikal verschoben hatten. Die Popularmusik des vergangenen Jahrhunderts weckte zwar Erinnerungen, aber nicht unbedingt nur angenehme. Die Concertschrammeln mussten den Ballast von Radio O-Regional genauso abschütteln wie den latenten Faschismusverdacht, mit dem die Pfleger von Volksmusiken bis weit in die achtziger Jahre, als das Phänomen der ≫Neuen Volksmusik≪ für Entspannung sorgte, behaftet worden waren.
Gleichzeitig trat die Formation, die sich ihr Programm mit kleinen, semantischen Tricks bereits in den Namen geschrieben hatte, mit der Idee an, die originale Schrammelmusik Schicht fur Schicht freizulegen und mit höchster instrumentaler Virtuosität ihr Innerstes nach außen zu kehren. Das verhieß einerseits aufmerksame Traditionspflege (und eine gute Hand bei der Sichtung der Originalliteratur), doch natürlich auch Kontextualisierung, zumal ein Schrammeltanz im Jahr 1995 eine völlig andere Botschaft verheißt als hundert Jahre davor.
Es war die große Leistung der Neuen Wiener Concert Schrammeln, dass sie diesen multiplen Herausforderungen gerecht wurden. Sie spielten – wie die originalen Schrammeln – Schrammelmusik im Wirtshaus genauso wie in etablierten Häusern der Hochkultur; sie betrachteten die Literatur mit Ehrfurcht, verstanden sich aber nie allein als konservative Formation, sondern erweiterten das Kernprogramm um Ausfluge in die Volksmusiken der benachbarten Regionen, von der Bukowina über Südtirol nach Kroatien bis ins Vorland der Karpaten. Und was an Bezugssystemen nicht im Archiv aufzutreiben war, komponierten sie kurz entschlossen selbst.
Dabei zeigten sie nichts anderes als die seelische Zusammengehörigkeit der Musiken und wie selbstverständlich sie ins Beuteschema der Schrammelmusik passen, die so wienerisch ist wie Wien: eine Summe unzähliger Einflüsse, die erst bekämpft, dann akzeptiert und schließlich herzlich gelebt werden.
So zeigen sich die Stücke auf diesem Jubiläumsalbum: Verträumt und wunderbar hatschend wie beim ≫Abwechsler≪, tanzbodentauglich wie beim ≫Kurmayer≪, beherzt ins Moll modulierend wie bei ≫Kuritka≪, wundervoll ins romantische Fach ausfransend wie beim ≫Semmering≪, schließlich abgelenkt ins Ungewisse zirpend wie bei ≫Tarantella≪. Der Klang der Band ist glasklar und transparent. Die Tempi sind seelenvoll gewählt. Die Hingabe zur Musik halt mit ihrer Ambition spielend Schritt.
Das Neue an dieser Schrammelmusik bedarf keiner Erklärung, so wie das Suse selbstverständlich ist und das Cremige und das Besoffene. Es ist Musik dieser Stadt, wie es sie nur gibt, weil es diese Band gibt.
(Christian Seiler)