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Editor’s Note |
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Alle Themen aus allen Symphonien Beethovens, live von einem Orchester gespielt, eingedampft auf eine Stunde und ergänzt mit Electronics – das ist »Nine In One«. Oder: eine wilde Achterbahnfahrt durch die Gehirnwindungen Ludwig van Beethovens. Vorne im Wagen: Wolfgang Mitterer. Man kennt ihn, manches Mal traktiert er als Musiker die großen Konzertorgeln des Kontinents, dann wieder komponiert er für bedeutende Orchester, Ensembles und Opernhäuser; lässt es in Jazzclubs krachen oder schreibt in seinem Studio in Wien Filmmusik. — Los geht’s! Radialbeschleunigung. Zentrifugalkraft. Loopings. Das ganze Programm. Und plötzlich geschieht das, was uns am Achterbahnfahren so reizt: Wir spüren unser eigenes Gewicht nicht mehr und fühlen uns für kurze Zeit schwerelos. Ein derartiger Zustand könnte sich nach dem Anhören dieses Albums einstellen. Ganz sicher aber hört man das ›Neue Testament der Musik‹, wie Beethovens Symphonien auch genannt wurden, von diesem Zeitpunkt an gänzlich neu.
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Lineup |
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All tracks mixed, edited, composed and rearranged by Wolfgang Mitterer Original music performed by Haydn Orchestra of Bolzano and Trento Gustav Kuhn, conductor
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First Listener’s Note |
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© Julia Stix |
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Beethoven-Bashing Von Hans Platzgumer
Unterhalten sich zwei Menschen – sagen wir: zwei Männer, die im Café Jelinek zusammensitzen – über Wolfgang Mitterers »Nine In One«. Der eine ist ›jünger‹, der andere ›älter‹. Was nun unter jünger oder älter verstanden werden soll, sei dem Leser überlassen. Jedenfalls hat der eine, der Ältere, nennen wir ihn Hans, diese CD bereits gehört, der andere nicht. Ludwig van Beethoven wiederum, den kennen sie beide, mehr oder weniger.
»Alle neun Sinfonien Beethovens in einer?«, fragt der Jüngere. »Ja, amalgamiert sozusagen. Ein gelungener Streich.« »Aber hat Beethoven nicht zehn Sinfonien geschrieben?« »Nur fast. Zur zehnten hat die Lebenszeit nicht gereicht.« »Da schreibst du knapp zehn Sinfonien, und das ist dann, was von dir übrig bleibt: fünf Stunden Musik.« »Bei Wolfgang Mitterer ist daraus jetzt nicht einmal eine Stunde geworden.« »Das ist praktisch.« »Praktisch?« »Ja.« »Zeitgemäß, was? Eine Optimierung, ›the essential Beethoven in less than an hour‹? Wenn du so denkst, bist auf dem Holzweg!« »Den Ring des Nibelungen haben sie letztes Jahr ja auch auf eine Trilogie heruntergebrochen.«
»Und damit die Wagnerianer schockiert. Doch darum geht es nicht. Ziel ist nicht, der immer kürzeren Aufmerksamkeitsspanne zu entsprechen, die wir Smartphonejunkies allen Kulturtechniken entgegenbringen, sondern vielmehr, aus dem Alten etwas Neues zu machen, und das gelingt bei Nine In One wie kaum sonst wo.« »Höre ich denn da einen allgemeinen Kulturpessimismus heraus? Pfui!« »Hörst du – auch wenn das hier eigentlich elektronische Musik ist – denn überhaupt Klassik?« »Doch, warum nicht? Ich höre alles.« »Alles, wenn es nur nicht länger als zwei Minuten dauert.« »Vielleicht bin ich für die Klassik noch nicht alt genug?« »Wann ist einer alt genug für die Klassik?« »Weiß nicht. Sag du’s mir.« »Schon als ich ein Jugendlicher war und begonnen habe, mich dem Konservatorium zu verweigern, hörte ich dauernd diesen Satz: ›Wenn du alt genug bist, dann wirst auch du Klassik mögen.‹ Das war in Tirol, oben in Innsbruck, wo ich aufwuchs, Anfang der 70er Jahre. Ebenso in Tirol, unten in Lienz, werkelte Wolfgang Mitterer bereits an den Tasten seiner Orgel. Mag gut sein, dass er sich damals schon an Beethoven vergriff? Zumindest war Chuck Berrys Roll Over Beethoven Jahre vor Mitterers Geburt erschienen, und bis heute sind diese Textzeilen nicht aus den Köpfen verschwunden: ›Roll over Beethoven – Tell Tchaikovsky the news – Roll over Beethoven – And dig this rhythm and blues!‹ 1972 produzierte Jeff Lynne für sein Electric Light Orchestra eine auf über elf Minuten gedehnte Version dieser Nummer, und das Beethoven-Bashing ging in eine neue Runde. Heute dann, endlich!, möchte man sagen: Nine In One. [...] |
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About |
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Wolfgang Mitterer studierte Orgel, Komposition und Elektroakustik in Wien und Stockholm und gehört in Österreich nicht nur zu ›den‹ Spezialisten für Elektronik, gleichermaßen virtuos an Tasten und Reglern, sondern auch zu den innovativsten Komponisten. Seine Arbeit bewegt sich zwischen Komposition und offener Form, neben Orgel- und Orchesterstücken, einem Klavierkonzert oder einer Oper hat er elektronische Stücke produziert, Klanginstallationen konzipiert, in diversen Formationen kollektive Improvisation betrieben und eine Sprache der Extreme, der Spannung, der Vielschichtigkeit entwickelt. Seine Experimentierfreudigkeit bringt ihn dazu, Gegensätzliches zu unvorhersehbaren musikalischen Ereignissen zusammenzuspannen, etwa, indem er in einer groß angelegten Komposition Musikkapellen und Kinderchöre spezialisierten Instrumentalisten und Sängern gegenüberstellt, während er selbst über Ringbeschallung den Raum mit live electronics bespielt. Zu weit mehr als einem spektakulären Event macht das seine musizierende Präsenz sowie die hohe Intensität und Komplexität seiner Musik, die unter die Haut geht. Das Aushorchen von leisen Klängen hat ebenso Platz wie das ›Montieren‹ explodierender Klangfetzen ›im Hirn‹ der Hörer. Weitab von Gefälligkeit ist Mitterers Musik doch zuweilen unheimlich-schön. Neben der Fertigstellung dieses einmaligen Projekts »Nine In One« zeichnet Wolfgang Mitterer in diesem Jahr auch für die musikalische Leitung in Hugo v. Hoffmannsthals Jedermann bei den Salzburger Festspielen verantwortlich. Für den Soundtrack zu Michael Glawoggers (†) Dokumentarfilm Untitled wurde Mitterer mit dem österreichischen Filmpreis 2018 ausgezeichnet. |
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Artist’s Note |
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Nachhallräume Von Andreas Schett 1 Ich schreibe diese Notizen stellvertretend für Wolfgang Mitterer und versuche sie so knapp zu halten, wie er das auch selbst tun würde. Wobei dieses Ziel von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Mitterer sagte nur drei Worte: »Notizen schreibst Du.« 2 Wir können so miteinander reden. Wir kennen uns schon lange. Und wir kommen beide aus Osttirol, einem entlegenen Bezirk im Süden Österreichs. 1994 konnte ich ihn davon überzeugen, für den Talschluss von Innervillgraten eine »Waldmusik für ein venezianisches Sägewerk« zu komponieren. Damals restaurierten Handwerker des bäuerlich geprägten Tales eine von Wasser angetriebene Säge; die auch ein imposantes Percussion-Instrument darstellt, wie wir fanden. Bei der Uraufführung goss es in Strömen, es blitzte und donnerte, dass nicht nur mehrere hundert Zuhörer unter Regenschirmen um Leib und Leben fürchten mussten, sondern auch der Tontechniker um seine Anlage. Alle hielten durch bis zum letzten Ton. Ringsum aus dem Wald schallte Mitterers Soundtrack, drei Holzarbeiter schnitten streng nach Partitur, ein Dialektsprecher fluchte wie der Teufel, 17 Hackbrettspieler saßen im Inneren der Säge wie auf einem Schiff. So etwas schafft Verbindungen. 3 In den Jahren danach folgten viele weitere Formen der Zusammenarbeit. In einem Steinbruch ließen wir Bagger tanzen, wir produzierten »Music for checking e-mails« oder »Sopop«, eine wahrhaftige Annäherung eines ausgebildeten Organisten und Komponisten an die elektronische Popmusik; einmal vertonten wir sogar gemeinsam einen Krimi (die Musik ging nie auf Sendung, sie erschien der Produzentin zu wenig ›emotional‹ für den Hauptabend). Unzählige Male trafen wir uns zum Essen im 1. Bezirk in Wien. Im Verlauf des Abends, vor allem gegen Ende hin, fielen stets impulsive, mitunter ge- danklich gar nicht besonders unterfütterte Sprüche. Bei einem dieser Sprüche – sinngemäß: Das Hören hat sich verändert, die Klassik müsste man radikal kürzen! – kam die Idee mit der Beethovenscheibe. Aber wer hatte die Rechte an einer guten Aufnahme aller neun Beethoven-Symphonien?
4 col legno hatte. Gustav Kuhn legte 2006 mit dem Haydn Orchester von Bozen und Trient eine famose Aufnahme vor; in demselben Jahr übernahm ich Anteile an col legno. Diese Files konnte sich Mitterer auf die Festplatte ziehen. »Nine In One«, das ist leicht daher gesagt, wurde aber eine Menge Arbeit, die sich über zwölf Jahre hinzog. Und es stellten sich jede Menge Fragen: Wieviel vom Original soll übrig bleiben? Alle Themen oder nur die wichtigsten? Welche sind die wichtigsten? Welche und wieviel Elektronik an welcher Stelle sollte die Originaltracks erweitern? Und nach welchen Prinzipien sollte das Ganze wieder neu geordnet werden, wenn es nicht zu sehr nach Jamsession mit Orchester klingen sollte? [...] |
1CD | Orchester | Contemporary | Electronic | Special | PRIME colors Edition |
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Empfehlung |
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Wolfgang Mitterer präsentiert mit »massacre« eine furiose Aufarbeitung des scheinbar zeitlosen Trios Macht, Religion und Gewalt. Eine Oper für fünf Sänger, neun Instrumente und electronics. |
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Der „Teufelsorganist“ in voller Aktion: Wolfgang Mitterer sollte man irgendwann live erlebt haben – sonst kennt man die „Königin der Instrumente“ eigentlich nicht. |
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Wolfgang Mitterer spielt Orgel und dabei bleibt kein Ton auf dem anderen. Der Komponist bringt das traditionsreiche Instrument in das 21. Jahrhundert. Folgen Sie ihm! |
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