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Steven Stucky
Über das Hören zeitgenössischer Musik
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Grundsatzrede, Florida State University New Music Festival, April 1993 - von Steven Stucky

Ich habe mir einmal den Spaß gemacht nachzuzählen, wie viele der im Jahresabonnement eines der wichtigsten amerikanischen Symphonieorchester enthaltenen Stücke Werke des 20. Jahrhunderts waren. Das Ergebnis wird Sie vielleicht überraschen: Immerhin vierzig Prozent aller in der fraglichen Saison gespielten Werke waren im 20. Jahrhundert entstanden. Das ist, zumindest für mich, eine erfreuliche Nachricht. Andererseits jedoch sollte uns zu denken geben, dass nur ein Viertel dieser im 20. Jahrhundert geschriebenen Werke – also nicht vierzig, sondern lediglich zehn Prozent des Jahresprogramms – aus der Feder von Komponisten stammten, die noch am Leben waren. Offensichtlich hat die Formulierung „Musik des 20. Jahrhunderts“, einst ein Synonym für „Avantgardezeug, das keiner mag“, uns endlich eingeholt. Das 20. Jahrhundert ist mittlerweile so weit fortgeschritten, dass der Großteil der Musik, die es hervorgebracht hat, uns vertraut geworden ist, bequem und sicher erscheint. Konsequenterweise enthielten die vierzig Prozent des Jahresprogramms, die jenes ungenannt bleibende Symphonieorchester unserem Jahrhundert widmete, vor allem Werke altbewährter Komponisten: Mahler, Strauss, Sibelius, Copland, Prokofjew, Bartók, Rachmaninow, Schostakowitsch.

Nichtsdestoweniger stellten jene zehn Prozent des Saisonprogramms, die aus wirklich neuer Musik bestanden, zweifellos immer noch eine Hemmschwelle für viele Konzertbesucher dar. Es gibt zwei Arten von Fragen, die mir als Komponist immer wieder von Menschen aus dem Publikum gestellt werden. Die erste berührt sowohl praktische als auch ästhetische Aspekte und lautet in etwa: „Ich weiß nicht, wie ich an diese Art von Musik herangehen soll. Können Sie mir dabei helfen?“ (Das ist die höfliche Version, im Gegensatz zur nicht ganz so höflichen Variante: „Erwarten Sie wirklich, dass ich mir diesen Müll anhöre?“) Die zweite Frage könnte man dem Bereich der Soziologie zuordnen, nämlich: „Für welches Publikum ist Ihre Musik gedacht? Wen wollen Sie damit ansprechen?“
 
Lassen Sie mich zunächst auf die letztgenannte Frage eingehen, die mir übrigens erst vor einer Woche, in einem Telefongespräch mit einem Redakteur des Tallahassee Democrat, wieder gestellt wurde. Auf den ersten Blick erscheint sie durchaus logisch, ehrlich, direkt: Ausgehend von der Annahme, dass ein Komponist (oder ein Maler, ein Dramatiker, ein Bildhauer, ein Romanautor) schöpferisch tätig wird, weil er anderen etwas mitteilen will – wer genau sind dann diese anderen? Von welchen Menschen erwartet sich der Künstler Verständnis und Wertschätzung für seine Arbeit? Im Bereich der sogenannten klassischen Musik jedoch berührt diese Frage einen höchst sensiblen Nerv, und die Antwort ist alles andere als offensichtlich. Zum Beispiel ist bekannt, dass hierzulande vier Prozent aller verkauften Tonträger auf klassische Musik entfallen. Von einhundert Käufern kaufen also 96 keine klassische Musik. Besteht somit mein Publikum aus den kläglichen vier, die übrig bleiben? Vermutlich nicht. Ich wette, dass drei von diesen vier Käufern auf der Suche nach noch einer Version von Vivaldis Vier Jahreszeiten sind, oder nach noch einem Stück für ihre Sammlung von Pavarottis schönsten hohen Cs. Das heißt also, wenn man nach Marktanteilen geht, könnten Greg Steinke und Ladislav Kubik und ich das Komponistenhandwerk ebenso gut gleich an den Nagel hängen.
    
Was aber, wenn ich alles daran setzen würde, diese Marktanteile zu erobern? Wenn ich versuchen würde, Musik zu schreiben, die diese vier von einhundert Hörern genau dort abholt, wo sie sind? Oder wenn ich mein Spektrum erweitern würde, um zum Beispiel durch ein „Crossover“ einen Teil des Rockpublikums für mich zu gewinnen? Diese Strategie würde meiner Meinung nach geradewegs in die Katastrophe führen, oder in den Kitsch, oder eine Kombination aus beidem. Der Versuch, sich vorzustellen, wie andere Menschen auf Musik reagieren, um dann Musik nach Maß zu schreiben, die genau diese Reaktion hervorrufen soll, ist dem Schreiben von Werbejingles gleichzusetzen. Es mag ehrliche Arbeit sein, mag sogar von einem gewissen Wert für die Gesellschaft sein, aber es hat mit Kunst nichts zu tun, sondern nur mit Geschäft. (Ein Gegenbeispiel aus jüngerer Zeit sollte uns allen noch in Erinnerung sein: In vielen Staaten des ehemaligen Ostblocks haben die Funktionäre dreißig Jahre lang Komponisten dazu genötigt, Musik für den einfachen Bürger zu schreiben, Melodien, die für jeden Fabrikarbeiter sofort zugänglich sind. Und wir sollten uns immer vor Augen halten, wie katastrophal die Ergebnisse dieses Experiments waren.)
Sehen wir uns zum Vergleich die Situation in der Literatur an. Wir akzeptieren bereitwillig, dass Autoren von Groschenromanen sich an ihren Lesern orientieren und sich streng an die altbewährten Formeln halten, mit denen sich nachweislich genau dieses Publikum zufriedenstellen lässt. Aber wir würden nie verlangen, dass Thomas Pynchon, Toni Morrison oder Salman Rushdie dasselbe tun. Vor ihnen haben wir genug Respekt, um ihnen zuzugestehen, dass die Leser ihnen auf halbem Wege entgegenkommen sollten. Das eine ist Geschäft, das andere Kunst. Und doch hat man mehr und mehr den Eindruck, dass von Komponisten erwartet wird, sich einem leicht zugänglichen Populismus anzupassen, um ein Publikum zurückzugewinnen, dass sie angeblich vor den Kopf gestoßen haben.
    
So prätentiös es auch klingen mag, aber Tatsache ist, dass ein Komponist nicht einem bestimmten Hörer oder einem bestimmten imaginären Publikum, sondern ausschließlich seiner Arbeit verpflichtet ist. Ein Komponist muss sich dessen bewusst sein, dass wahre Kunst gehaltvoll, vielschichtig, provozierend ist. Ihr Ziel ist Wahrheit, nicht Popularität. Sie gibt ihre Geheimnisse nicht schon nach dem ersten Hören preis, denn sie wurde geschaffen, um die Zeit zu überdauern: Sie soll nicht nur beim ersten Hören das Publikum bezaubern, sondern auch nach dem fünfzigsten Hören noch bestehen können. Die Romanschnulze aus dem Supermarkt kann man (bestenfalls) einmal lesen, den Ulysses von James Joyce hingegen dutzende Male (tatsächlich muss man das vielleicht sogar). Das ist der Unterschied: Das eine ist Geschäft, das andere Kunst. Beethoven hatte bekanntlich nur ein spöttisches Grinsen dafür übrig, wenn man ihm nahelegte, auf die Grenzen seines Publikums – oder die Grenzen der Musiker – Rücksicht zu nehmen. Er war unhöflich, gehässig und arrogant. Aber wenn er weniger arrogant gewesen wäre, wenn er seine Ansprüche nach unten geschraubt hätte, wären seine Symphonien dann gehaltvoll genug, spannend genug geworden, um uns auch heute noch, zweihundert Jahre später, in ihren Bann zu ziehen? Ich würde mich niemals dazu versteigen, meine Musik mit der von Beethoven zu vergleichen (ich bin ja, um mich selbst zu zitieren, einer aus der Vielzahl an Komponisten, die sich ein Leben lang darum bemühen, annähernd so gut wie Massenet zu werden), und doch meine ich, dass jeder Komponist, der diese Berufsbezeichnung verdient, zumindest versuchen sollte, sich seine Ziele so hoch wie Beethoven zu stecken.
    
Wer also ist mein Publikum? Eine realistische Antwort darauf kann nur lauten: mein Publikum besteht aus genau einem Zuhörer, und der bin ich selbst. Nur dann, wenn ich Musik schreibe, die mein Blut in Wallung bringt, die mir selbst Schauer über den Rücken jagt, habe ich die Chance, etwas zu erschaffen, das genug Wahrheit in sich birgt, um auch andere Hörer auf diese Art zu berühren. Ich kann nur hoffen, dass diese Herangehensweise mich einem etwas größeren Publikum näherbringt: jenen, die Bach und Mozart ebenso lieben wie Schumann, Debussy oder Bartók und die sich nicht einfach nur zurücklehnen wollen, um sich von Musik überspülen zu lassen, als handelte es sich um eine stimmungsverändernde Droge, sondern die bereit sind, sich die Mühe zu machen, dem Komponisten auf halbem Wege entgegenzukommen.
    
Im übrigen gilt all das mitnichten nur für Neue Musik. Vor ein paar Jahren wurde mir bei einem Publikumsgespräch vor einem Konzert in Los Angeles die Frage gestellt: „Wieso tun Sie mir das an? Ich komme hierher, um mich zu entspannen.“ Als Antwort darauf habe ich versucht, dem Fragesteller so sanft wie möglich zu erklären, dass er dafür wohl am falschen Ort sei. Beethovens Eroica dient nicht der Entspannung, ebenso wenig (ungeachtet aller qualitativen Unterschiede) wie meine Musik.
    
Aber kommen wir auf die erste Frage zurück. Einmal angenommen, dass Sie guten Willens sind – wie sollten Sie an unbekannte Neue Musik herangehen, um für sich das Beste herauszuholen? Dazu möchte ich Ihnen fünf Ratschläge ans Herz legen: Sie sollten (1) sich von falschen Erwartungen lösen, (2) auf Diskontinuität gefasst sein, (3) nicht zu verbissen an die Sache herangehen, (4) auf neue Instrumente, neue Klänge und Einflüsse aus anderen Kulturen gefasst sein und (5) sich das Recht zugestehen, das, was Sie hören, nicht zu mögen.
1. Lösen Sie sich von falschen Erwartungen.
Musik aus dem traditionellen Bach-bis-Brahms-Repertoire arbeitet mit vertrauten Elementen – Dur- und Molltonarten, Motiven, Melodien und Themen, Akkordprogressionen, altbekannten Formen wie Sonaten oder Rondos, Spielweisen und Klängen, die wir gelernt haben wiederzuerkennen. Ein Aspekt, in dem zeitgenössische Musik sich oft vom traditionellen Repertoire unterscheidet, ist, dass diese vertrauten Elemente zum Teil oder gänzlich fehlen oder auf radikal andere Weise verwendet werden: etwa wenn Adams durchaus vertraute Akkorde in einen unerwarteten Kontext setzt, oder wenn Ligeti Melodie um Melodie anhäuft, bis alle zusammen in einem einzigen Klangbündel versinken, oder wenn Penderecki oder Xenakis anstelle des Kontrasts zwischen zwei einprägsamen Themen (ein Element, das uns – wenn auch unbewusst – beim Hören klassischer oder romantischer musikalischer Formen stark beeinflusst) einprägsame Klangfarben oder Klangtexturen einander gegenüberstellen. An diese Musik auf Basis der gewohnten mentalen und auditiven Kategorien heranzugehen, kann für den Hörer eine durchaus frustrierende, vielleicht sogar ärgerliche Erfahrung sein – so, als würde man ein abstraktes Gemälde von Jackson Pollock mit derselben Erwartungshaltung betrachten wie ein realistisches Gemälde von Andrew Wyeth. Lassen Sie zu, dass jedes neue Stück, das Ihnen unterkommt, ein eigenes Regelwerk, einen eigenen Bezugsrahmen schafft, eigene Bedingungen festlegt. Geben Sie Ihre vorgefassten Meinungen an der Garderobe ab, die sind Ihnen nur im Weg
2. Seien Sie auf Diskontinuität gefasst.
Traditionelle Techniken zur Schaffung von Kontinuität – wie man sanft von einem musikalischen Ereignis vom nächsten übergeht und den Eindruck entstehen lässt, die Ereignisse gehörten zusammen – sind großteils nicht mehr zeitgemäß. Viele Komponisten haben neue Techniken entwickelt, die dem wichtigsten neuen künstlerischen Medium des 20. Jahrhunderts entstammen, dem Film. Anstelle geordneter, abschnittsweise aufgeteilter klassischer Themen, die durch glatte Übergänge verbunden sind, werden wir vielleicht mit Auflösungen, plötzlichen Schnitten oder Flashbacks konfrontiert. (In der Musik sind diese Techniken schon mindestens seit der Zeit Strawinskys in Gebrauch, allerdings haben wir uns immer noch nicht ganz daran gewöhnt.) Anstelle einer vorhersehbaren Rückkehr zu Ideen, die wir bereits gehört haben, erwartet uns vielleicht ein „stream of consciousness“-artiger Erzählmodus. (Diese Idee ist in der Musik spätestens seit Debussys Jeux präsent, aber auch daran müssen wir uns erst gewöhnen.) Sie sollten darauf gefasst sein, solchen vom 20. Jahrhundert geprägten musikalischen Narrativen zu begegnen.
3. Versuchen Sie nicht allzu verbissen, die Musik zu „verstehen“.
Bei der Komposition zeitgenössischer Musik kommen oft komplizierte esoterische Techniken zum Tragen. Dasselbe galt allerdings auch für das Musikalische Opfer von Bach, die Jupiter-Symphonie von Mozart oder die Haydn-Variationen von Brahms. All diese Werke berühren uns im Innersten, aber gewiss nicht deshalb, weil wir jeden einzelnen Arbeitsschritt des Komponisten nachvollziehen können. Wenn uns die Architektur eines Gebäudes begeistert, liegt das nicht daran, dass wir die spezifische statistische Belastung berechnen können oder überhaupt irgendeine Ahnung davon haben, weshalb ein Haus nicht zusammenbricht. Dasselbe gilt für die Musik: Wenn Sie je eine Produktion von Bergs Oper Wozzeck gesehen und gehört haben, dann wissen Sie, dass man die extrem rigorosen und ausgefeilten Strukturen, mit denen Berg arbeitet, nicht verstehen muss, um auf die Leidenschaft, die Tragik, den üppigen Klang der Musik ganz direkt, ganz emotional reagieren zu können.

T.S. Eliot hat vor sechzig Jahren in einem Essay über „schwierige“ Dichtung genau dieses Dilemma beschrieben. Die Leser, so schreibt er, werden oft von einer Art Lampenfieber befallen, von der Angst, sie wären der Herausforderung, vor die sie ein neues und ungewöhnliches Werk stellt, nicht gewachsen. Auch er selbst, so Eliot, „kapiere“ oft nicht, worum es gehe. Ich weiß jedenfalls, dass ich neue Stücke oft als verwirrend empfinde, und vielleicht geht es manchen von Ihnen ebenso. Dazu ein Vorschlag: Anstatt sich Gedanken darüber zu machen, ob Ihre Fähigkeiten als Hörer ausreichen, sollten Sie sich auf das wunderbar aufregende, belebende Gefühl konzentrieren, neuer Musik ganz allein – unbeeinflusst von irgendwelchen durch Historiker, Kritiker oder Traditionen festgelegten Urteilen – gegenübertreten zu können und sich vollkommen frei und spontan selbst einen Eindruck zu verschaffen: so wie jene Zuhörer, die im Publikum saßen, als 1830 zum ersten Mal die Symphonie fantastique von Berlioz erklang, oder Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune im Jahr 1893, oder Strawinskys Sacre du printemps im Jahr 1913, oder Bartóks Konzert für Orchester im Jahr 1944. Wenn man so an die Sache herangeht – was könnte spannender sein als das allererste Hören einer neuen Komposition?! Die Frage, ob man sie „versteht“ (was immer das bedeutet), kann man auf später verschieben.
4. Seien Sie auf neue Instrumente, neue Spiel- und Gesangstechniken und auf Einflüsse aus anderen Kulturen gefasst.
In der gesamten Geschichte der abendländischen Konzertmusik haben Komponisten immer wieder Instrumente und theoretische Ansätze übernommen, die von außerhalb ihrer eigenen Tradition stammten, um so ihre Ressourcen zu erweitern. Zur Zeit Mozarts und Beethovens wurden fremdländische Instrumente wie Basstrommel, Becken und Triangel, die in der türkischen Militärmusik gebräuchlich waren, in die Besetzung westeuropäischer Orchester integriert. Debussy und seine Zeitgenossen entdeckten die Musik der javanischen Gamelans und zeigten sich tief beeindruckt von dieser Begegnung. Die Werke von Aaron Copland und William Schuman wurden stark von der Leidenschaft der Komponisten für den Jazz der 1920er Jahre geprägt. Und auch heute wäre etwa John Adams Musik ohne seine Begeisterung für die Bigbands der 1940er Jahre kaum denkbar, und Steve Reich lässt sich von westafrikanischer Trommelmusik ebenso stark inspirieren wie György Ligeti von der Musik der Shona in Simbabwe. Wenn Sie heute Abend also Mr. Kubiks Stück für eine Flöte und zehn Schlagwerker hören, oder die Komposition von Mr. Lubet in einer Interpretation von Mitgliedern unterschiedlicher ethnischer Ensembles, oder die von den Kulturen Japans und der amerikanischen Ureinwohner inspirierte Musik von Mr. Steinke, dann hören Sie nicht mehr und nicht weniger als die Fortsetzung einer langen und ehrwürdigen Tradition der abendländischen Kunstmusik.
5. Und zu guter Letzt: Gestehen Sie sich das Recht zu, das, was Sie hören, nicht zu mögen.
Wenn all Ihre Bemühungen nicht fruchten – nun, es steht nirgendwo geschrieben, dass Ihnen jedes neue Stück, das Sie hören, auch gefallen muss. Vor ein paar Jahren hatte ich ein Erlebnis, an das ich mich sehr gern zurückerinnere. Einige Leute waren nach einem Konzert hinter die Bühne gekommen, um mir die Hand zu schütteln und mir wie üblich mitzuteilen, dass ihnen mein Stück gefallen habe. Irgendwann kam dann ein großer Mann auf mich zu, streckte lächelnd seine Hand aus und sagte freundlich: „Ich fand Ihr Stück ganz fürchterlich.“ Dieser Satz bedeutete mir viel mehr als all die anderen Kommentare, weil dieser Hörer – anstatt mir höflich zu erklären, wie „interessant“ er meine Musik gefunden habe, oder (die wahrscheinlichere Variante) gar nichts zu sagen und verärgert nach Hause zu gehen – seine eigene Reaktion ernst genug genommen hatte, um hinter die Bühne zu kommen und sich freundlich mit mir darüber zu unterhalten.

Gestehen Sie sich also das Recht zu, das, was Sie hören, nicht zu mögen. Nur eine Bitte: Versuchen Sie nicht, Ihr Missfallen mit der Behauptung zu rechtfertigen, das sei ja keine Musik. Die Musikgeschichte ist voll von vorschnellen Urteilen darüber, was angeblich Musik ist und was nicht. Selbst Beethoven wurde für seine radikal neuen Symphonien von Kritikern regelmäßig als amusischer Wahnsinniger abgestempelt. Die Grenzen der Musik werden seit Jahrhunderten immer wieder aufs Neue erweitert, und das wird auch in Zukunft so sein. Aber angesichts der Tatsache, dass Mahler, Bartók und Schostakowitsch mittlerweile akzeptabel geworden sind (zumindest innerhalb unseres kostbaren Marktanteils von vier Prozent), besteht vielleicht die Chance, dass dies in naher Zukunft auch den Komponisten, deren Werke wir gleich hören werden, widerfahren wird. Wir sind es uns selbst schuldig, auf diesen Tag zu hoffen – ja, mehr noch, auf diesen Tag hinzuarbeiten.


Steven Stucky
Steven Stucky ist einer der führenden zeitgenössischen Komponisten der USA; für sein Second Concerto for Orchestra wurde er 2005 mit dem Pulitzerpreis für Musik ausgezeichnet. Sein Oeuvre umfasst auch zahlreiche Auftragswerke für die renommiertesten Orchester und Ensembles der USA.

Stucky unterrichtet seit 1980 an der Cornell University, wo er die Professur für Komposition der Given Foundation innehat. Er arbeitet auch seit über zwanzig Jahren mit dem Los Angeles Philharmonic zusammen, derzeit in der Funktion als beratender Komponist für Neue Musik.

www.stevenstucky.com
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